Liebevollere Psychotherapie
durch Beachtung der Persönlichkeitsstruktur[1]
Der Begriff der Struktur ist ein zentraler Bestandteil des
psychodynamischen Menschen- und Krankheitsverständnisses, wobei die Begriffe "Struktur", "Persönlichkeit" und "Charakter" oft synonym oder in Kombination ("Persönlichkeitsstruktur",
"Charakterstruktur") verwendet werden. Das Wort „Struktur“ macht
deutlich, dass jeder Mensch durch relativ stabile Muster des
Verhaltens, Erlebens und Denkens gekennzeichnet ist. Wiederkehrende Muster zeigen
sich am offensichtlichsten im Sozialverhalten.
In der Psychotherapie-Richtlinie werden
"seelische Strukturen" als "die anlagemäßig disponierenden und
lebensgeschichtlich erworbenen Grundlagen seelischen Geschehens verstanden, das
direkt beobachtbar oder indirekt erschließbar ist". Die Struktur ist
folglich nicht selbst schon die Krankheit, die es psychotherapeutisch zu
behandeln gilt. Die seelische Struktur ist nur eine Disposition, teils
angeboren, teils erworben. Sie ist eine Krankheitsbereitschaft, sozusagen die
notwendige Bedingung, psychisch oder psychosomatisch erkranken zu können, wenn
zusätzliche Bedingungen, nämlich aktuelle Auslöser hinzutreten.
Eine psychodynamische
Strukturdiagnostik schließt insbesondere die Einschätzung des sogenannten
"Selbst" und des sogenannten "Ich" ein. Aus psychodynamischer
Sicht ist das Selbst die innere Repräsentanz, das Modell oder das Bild, das ein
Mensch von sich selbst hat. Ein "gesundes" Selbst zeichnet sich nach
Heinz Kohut durch das subjektive Erleben aus, eine Ganzheit, ein autonomes,
beständiges und kohärentes Zentrum von Vitalität und Initiative und der Mittelpunkt
des unmittelbaren Empfangens von Eindrücken zu sein. Nach Stuck Sullivan ist das Selbst die
Summe aller verinnerlichten Zustimmungen, die ein Mensch durch seine Umwelt
erhalten hat.
Das Ich ist hingegen als die Summe aller mentalen
Funktionen zu verstehen, die eine möglichst gute Adaptation an die soziale
Umgebung gewährleisten und die Kohärenz des Selbst sicherstellen. Die Abwehr
ist nur eine von vielen Aufgaben des Ich. Die hauptsächliche Funktion des Ich
besteht darin, die Anforderungen des Alltags an die Selbststeuerung und an das
Verhalten in sozialen Situationen zu bewältigen. Die adaptative Qualität der
Ich-Funktionen eines Menschen hängt davon ab, wie gut die Eltern über
Selbststeuerungs- und Interaktionsfähigkeiten verfügten, also als Vorbilder
taugten und präsent waren.
Aus bindungstheoretischer Sicht sind die
Bindungsrepräsentationen und die inneren Arbeitsmodelle zu untersuchen. Sie
determinieren, inwieweit jemand Nähe und Sicherheit erwartet und sich
selbst der Zuwendung, der Liebe und Aufmerksamkeit wert fühlt, also
Nähe zulassen kann. Sie formen die Organisation der Persönlichkeit und des Selbst, der Gedanken und Sprache, der Aufmerksamkeit und des Gedächtnisses, die emotionalen und sozialen Regulationsprozesse sowie
die Strategien des Umgangs mit den Bindungspersonen. Die Arbeitsmodelle und Bindungsrepräsentationen enthalten ferner
Erwartungen in Bezug auf die
Vertrauenswürdigkeit der Umwelt und Vorstellungen
darüber, wie akzeptabel und liebenswert man in den Augen seiner Bezugspersonen
ist. Im Lauf des Lebens können sich die Bindungsrepräsentation noch durch
entsprechende bedeutungsvolle Bindungserfahrungen mit anderen
Bezugspersonen oder durch einschneidende Erlebnisse wie Verluste und andere
traumatische Erfahrungen in eine unsichere
oder sichere Richtung der Bindung verändern.
Darüber hinaus müssen die im Laufe der
Persönlichkeitsentwicklung zur Struktur gewordenen interpersonellen Konflikte
bzw. Konfliktbereitschaften identifiziert werden. Wenn wichtige Bedürfnisse mit
der Umwelt oder auch mit anderen inneren Intentionen in unauflösbare Konflikte
geraten, kann eine unerträgliche Inkonsistenzspannung und schließlich Krankheit
resultieren. Aber Konflikte, Konfliktbereitschaft und Konfliktfähigkeit sind
auch die Basis der Persönlichkeitsreifung.
Die OPD unterscheidet Konflikte zwischen
Autonomiestrebungen und Abhängigkeitswünschen, zwischen dem Verlangen,
Situationen und andere Menschen zu kontrollieren, und Unterwerfungstendenzen,
zwischen dem Bedürfnis, versorgt zu werden, und dem Streben, autark zu sein,
sowie zwischen egoistischen Motiven und prosozialen Tendenzen (Thema
"Schuld"). Ferner führt die OPD Konflikte im Zusammenhang mit
Selbstwert, Identität und sexuellen Bedürfnissen (ödipale Konflikte) an. Leider
fehlt in der OPD-2 etwas aus psychodynamischer Sicht Wesentliches (aber schwer
Operationalisierbares): die Erfassung der Antriebe, die den Konflikten zu
Grunde liegen, v.a. die unbewussten Motivationen, Abwehrmechanismen und
Hemmungen, welche die neurotische Konfliktdynamik bestimmen.
Eine richtliniengemäße Strukturdiagnostik kommt daher nicht
an Harald Schultz-Hencke vorbei. Neurotische
Persönlichkeiten sind nach Schultz-Hencke durch die Hemmung von Antrieben
charakterisiert. Den Begriff "Neurosenstruktur" prägte
Schultz-Hencke für eine
Persönlichkeit, die besonders anfällig (disponiert) für eine neurotische
Störung ist. Der Neurotiker ist in Folge seiner Hemmung oft besonders bequem
und hat gleichzeitig übertriebene Ansprüche an sich, seine Umwelt und an das
Leben. Schultz-Hencke definierte vier
neurotische Hauptdispositionen, die sich jeweils durch eine bevorzugte Hemmung
eines spezifischen Antriebs auszeichnen. Er unterschied eine depressive, eine
zwanghafte eine schizoide und
eine hysterische Neurosenstruktur. Dieser Einteilung
folgte später Fritz Riemann in seinem Buch "Grundformen der Angst".
Schultz-
Hencke
|
Schizoide Neurosenstruktur
|
Depressive Neurosenstruktur
|
Zwanghafte Neurosenstruktur
|
Hysterische
Neurosenstruktur
|
Riemann
|
Angst vor Selbsthingabe
|
Angst vor Selbstwerdung
(Objektverlust)
|
Angst vor Wandlung (Unsicherheit)
|
Angst vor Notwendigkeit (Unfreiheit)
|
Schultz-Henckes Konzept von vier Neurosenstrukturen wurde von Boessmann und
Remmers um sechs weitere Persönlichkeitsvarianten auf zehn "Neurosendispositionen"
(siehe unten) erweitert. Diese Erweiterung nahm v.a. die interpersonelle
Perspektive von Lorna Smith Benjamin (2001: "Die
interpersonelle Diagnose und Behandlung von Persönlichkeitsstörungen",
München: CIP-Medien) und die Neurosenlehre von Stavroz Mentzos (1984:
Neurotische Konfliktverarbeitung, Frankfurt a. M.: Fischer) auf. In den zehn
Neurosendispositionen sind neben antriebs- und konfliktdynamischen Aspekten
auch objektbeziehungs- und bindungstheoretische, ich- und selbstpsychologische
sowie interpersonelle Ansätze berücksichtigt.
Zur Bestimmung des Persönlichkeitsstils bzw. der
Neurosendisposition eignen sich folgende Fragen und Kriterien:
·
Wie ist der Patient?--> Wesensmerkmale
·
Wie ist er so geworden? -->Biografie
·
Was ist gehemmt? Was wehrt er wie ab? --> Abwehrmechanismen
·
Was will der Patient von mir (der TherapeutIn)? -->
Impliziter Auftrag
·
Wie geht es mir damit? --> Gegenübertragung
·
Was ist der durch aktuelle Faktoren aktualisierte
unbewusste Grundkonflikt?
·
Für welchen aktuellen Auslöser ist der Patient besonders
vulnerabel?
Eine Tabelle mit den wichtigsten diagnostischen Merkmalen
der zehn Neurosendispositionen finden Sie kostenlos unter
www.bericht-online.de.[2]
Mit Hilfe dieser Tabelle lässt sich der individuelle Persönlichkeitsstil eines
Menschen rasch und psychodynamisch fundiert bestimmen. Der Persönlichkeitsstil ermöglicht
wiederum gut fundierte Hypothesen hinsichtlich Motivationsstruktur, unbewussten
Konfliktbereitschaften und Abwehrmechanismen. Das alles erleichtert das tiefenhermeneutische
Verständnis der Persönlichkeit eines Menschen sowie seiner Probleme und
Symptome.
Strukturniveau
Das
Strukturniveau ist ein psychodynamisches Maß für die Qualität der Selbststeuerungs-
und Interaktionsfähigkeiten (Ich-Funktionen), die jeder Mensch benötigt,
um mit dem jeweiligen aktuellen Anpassungsdruck aus seiner spezifischen soziokulturellen
Wirklichkeit fertig zu werden. Die Anforderungen des therapeutischen Gesprächs
dienen als brauchbare Testbedingung, um einschätzen zu können, inwieweit das
soziale Interaktionsverhalten und die Selbststeuerung von Patienten
situationsgerecht und funktional sind. Schilderungen von interpersonalen
Alltagsepisoden und aus der Vergangenheit geben weitere Hinweise auf die
individuell ausgeprägten strukturellen Fähigkeiten. Zur Bestimmung des
Strukturniveaus werden in der OPD vier Dimensionen betrachtet:
In der nachfolgenden Tabelle sind die wünschenswerten Ich-Funktionen (angelehnt
an die OPD, gestrafft, z.T. ergänzt und in eine auch für Patienten verständliche
Sprache transformiert) aufgeführt. Für eine rasche orientierende Bestimmung des
Strukturniveaus beurteilt die TherapeutIn, inwieweit die aufgelisteten
Fähigkeiten im optimalen Maß vorhanden sind (gut integriert) oder deutlich
defizitär sind (gering integriert). Eine geringe Integration der orange
gefärbten Bereiche verweist auf ein möglicherweise erhöhtes Suizidrisiko.
|
Durch die Bestimmung des Strukturniveaus gewinnt
der oft abstrakt und vieldeutig verwendete Begriff des Ich an Kontur. Das
Strukturniveau gibt prägnante diagnostische Kriterien an die Hand, die eine
zuverlässige Einschätzung der Qualität der Ich-Funktionen, sprich der
Selbststeuerungs- und Interaktionsfähigkeiten der Patienten, ermöglicht. Die realistischere
Einschätzung der strukturellen Fähigkeiten und Defizite der Patienten sowie das
bessere Verständnis für die biografischen Ursachen der Defizite ermöglichen
eine nachsichtigere, geduldigere, mitfühlendere und annehmendere Haltung gegenüber
den Patienten. Eine Überforderung der Selbststeuerungs- und
Interaktionsfähigkeiten durch aktuelle Anforderungen, Belastungen,
Veränderungen und Entwicklungsaufgaben ist leichter erkennbar. Aber auch die Ressourcen der Patienten treten deutlicher hervor, können
besser bewusst gemacht und aktiviert werden.
Negative Gegenübertragungsreaktionen werden durch
Erkennen des strukturellen Unvermögens und der Unabsichtlichkeit der
problematischen Verhaltensweisen oder Kommunikationsformen des Patienten
abgemildert. Gerade unerfahrene TherapeutInnen werden bescheidener hinsichtlich der Veränderungsfähigkeit der
Patienten und hinsichtlich der Therapieziele. Der Druck auf TherapeutIn und
Patient nimmt ab. TherapeutInnen können auch mit schwierigen Patienten über
längere Zeiträume hinweg leichter eine wohlwollende, wertschätzende und Halt
gebende Therapiebeziehung aufrecht erhalten.
Inhaltlich geht
es in der strukturbezogenen Psychotherapie um die Verbesserung v.a. jener
Ich-Funktionen, die der Patient für die Bewältigung der aktuellen Anforderungen
seines Lebens am dringendsten benötigt. Der Fokus der Behandlung kann z.B.
darauf liegen, dass der Patient seine Affekte deutlicher und differenzierter
erlebt, die erlebten Affekte besser ertragen, angemessener ausdrücken und steuern,
aber auch die Affekte anderer besser entschlüsseln und verstehen und sich in
andere besser einfühlen kann.
Es geht hier nicht darum, dass die TherapeutIn viel erklärt, sondern v.a.
um das modellhafte Vormachen der zu verbessernden Selbststeuerungs- und Interaktionsfähigkeiten
im Rahmen der Therapiebeziehung (Imitationslernen). Der Patient erlebt z.B.
wiederholt, wie die TherapeutIn ihre emotionale Betroffenheit in problematischen
Beziehungsepisoden mit dem Patienten ehrlich und zugleich wertschätzend zum
Ausdruck bringt und wie sie Spannungen und Enttäuschungen aushält (containing),
ohne zu resignieren und sich emotional zurückzuziehen.
Solche sich
wiederholenden korrektiven emotionalen Erfahrungen kann der Patient Stück für
Stück verinnerlichen. Es bauen sich allmählich neue Bindungsrepräsentationen
auf. Die Zwangsläufigkeit der bisherigen maladaptiven Beziehungsmuster kann
zugunsten funktionalerer interpersoneller Interaktionsoptionen abgemildert werden.
Seelische Strukturen sind zwar relativ invariabel, aber mit ausreichender
Motivation, Geduld, Ausdauer und therapeutischer Liebe (bei angemessener
Distanz und Abstinenz) durchaus veränderbar.
Meine Buchzusammenfassungen und Artikel
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dem Menüpunkt "5A. Persönlichkeitsstil".